Initiative "Du bist hier der Chef"

"Du bist hier der Chef" – Eine Chance für Bio-Betriebe?

Die Initiative "Du bist hier der Chef" hat im Juli 2020 eine sogenannte Verbrauchermilch in die Regale verschiedener Lebensmittelketten gebracht. Das Besondere daran: Verbraucherinnen und Verbraucher haben darüber entschieden, wie die Milch erzeugt wird und welchen Preis die Betriebe bekommen. Geht das Projekt für alle Beteiligten auf? Und lässt sich die Idee auf andere Produkte übertragen?

Seit Ende Juli 2020 ist in den Kühlregalen von etwa 750 Filialen verschiedener Lebensmittelmärkte ein neues Produkt zu finden: eine sogenannte Verbrauchermilch. Das Besondere an dieser Milch ist, dass Verbraucherinnen und Verbraucher festgelegt haben, wie sie erzeugt wird und zu welchem Preis sie verkauft werden soll. Dahinter steckt die Initiative "Du bist hier der Chef", ein gemeinnütziger Verein, der im Jahr 2019 gegründet wurde.

Vorbild Frankreich

"Wir wollen Verbraucherinnen und Verbraucher selbst entscheiden lassen, welche Qualitäten sie bei ihren Lebensmitteln wünschen und wie viel sie dafür bezahlen wollen", sagt Nicolas Barthelmé. Er ist Mitgründer der Initiative, erster Vorsitzender und Geschäftsführer. Vorbild für den Verein ist das Projekt "C´est qui le Patron" in Frankreich, das es bereits seit vier Jahren gibt und wo inzwischen über 3.000 landwirtschaftliche Betriebe 35 verschiedene Produkte nach den Vorstellungen der Konsumentinnen und Konsumenten erzeugen.

In Deutschland ist "Du bist hier der Chef" noch deutlich kleiner. Zurzeit gibt es etwa 800 Mitglieder und mit der Milch erst ein Produkt, das nach den konkreten Wünschen der Verbraucherinnen und Verbraucher erzeugt wird. "Wir wollen behutsam und nachhaltig wachsen", hat sich Barthelmé zum Ziel gesetzt.

Fragebogen zur Haltung, Fütterung und Preisgestaltung

Um die konkreten Wünsche von Verbraucherinnen und Verbraucher zur Erzeugung eines Lebensmittels einzuholen, stellt die Initiative einen Fragebogen auf ihrer Website online. Darauf haben alle interessierten Nutzerinnen und Nutzer Zugriff und können die von ihnen bevorzugte Form der Haltung, Fütterung und Preisgestaltung festlegen. Beim ersten Produkt, der Verbrauchermilch, ist der Fragebogen über 9.300 Mal ausgefüllt worden.

Als Hilfestellung gibt es Hintergrundinformationen zu den wählbaren Alternativen. So wird zum Beispiel erklärt, welche Vorgaben zurzeit für die konventionelle und ökologische Haltung gelten oder welche Form der Fütterung üblich ist. Konkrete Fragen bei der Milch waren zum Beispiel, ob eine Weidehaltung gewünscht ist und welche Fütterung jedem Tier zur Verfügung stehen soll.

Erzeugerpreis spielt entscheidende Rolle

Ein zentraler Punkt des Fragebogens ist der gewünschte Erzeugerpreis, den die Betriebe erhalten sollen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer können hier zwischen vier Varianten wählen, ausgehend vom aktuellen Marktpreis über eine kostendeckende Vergütung bis hin zu einem "fairen" Preis, mit dem ein Betrieb Reserven für zukünftige Investitionen bilden kann.

Bei der Beantwortung wird direkt angezeigt, wie sich eine Entscheidung für eine bestimmte Maßnahme auf den Verbraucherpreis auswirkt. Im Fall der Milch kam man mit der gewünschten Art der Erzeugung und Vergütung für die Betriebe auf einen Ladenpreis von 1,45 Euro. Darin enthalten sind neben der Mehrwertsteuer der Auszahlungspreis für die Betriebe, die Kosten und Margen von Molkerei und Handel sowie ein Beitrag für die Initiative "Du bist hier der Chef", die damit die Kosten für ihre Aktivitäten abdeckt.

Betriebe erhalten 58 Cent pro Liter Milch

Auf Basis der Abstimmung erhalten die beteiligten Bio-Betriebe für ihre Milch einen festen Auszahlungspreis von 58 Cent pro Liter. "Dieser Preis ist den Betrieben vertraglich garantiert", sagt Barthelme, "unabhängig davon, wie sich der Marktpreis entwickelt oder zu welchem Preis die einzelnen Filialen das Produkt anbieten."

Mit der Unterschrift garantieren die Betriebe, dass sie die aus den Fragebögen abgeleiteten Vorgaben für die Erzeugung einhalten. Dazu gehört zum Beispiel eine überwiegende Fütterung mit Frischgras, mindestens vier Monate Weidehaltung im Jahr und der Einsatz regionaler Futtermittel. "Teilweise gehen die in einem Pflichtenheft formulierten Anforderungen sogar über die Vorgaben der Bio-Verbände hinaus", betont Barthelmé. So müssen die Betriebe zum Beispiel eine Mindestfläche von 2.000 Quadratmetern Weidefläche pro Tier anbieten können.

Die Einhaltung der Vorgaben soll über regelmäßige Betriebsbesuche von Vereinsmitgliedern sichergestellt werden. Das hat aus Sicht von Barthelmé auch den Vorteil, dass der gewünschte Dialog mit den Betrieben gestärkt wird und die Beteiligten ein besseres Gespür für die Herausforderungen in der Erzeugung bekommen.

Verträge mit 15 Bio-Betrieben geschlossen

Bisher produzieren 15 Bio-Betriebe die Milch für die Initiative. Die ersten Verträge laufen über drei Jahre, können aber theoretisch kurzfristig gekündigt werden. Nach weniger als drei Monaten wurden etwa 250.000 Liter der Verbrauchermilch verkauft – deutlich mehr als das Gründerteam erwartet hatte. Für die Verarbeitung und das Abfüllen in Verpackungen im Design der Initiative konnte die Upländer Bauernmolkerei im nordhessischen Willingen gewonnen werden.

"Nach unserer bisherigen Erfahrung sind nur mittelständische Verarbeiter in der Lage, unsere relativ kleinen Mengen getrennt zu erfassen und zu verarbeiten, ohne dass deutliche Mehrkosten entstehen. Die großen Molkereien tun sich damit viel schwerer", berichtet Barthelmé. Um die gewünschte Regionalität sicherzustellen und die steigenden Produktionsmengen liefern zu können, ist er mit dem Gründerteam in Gesprächen mit weiteren Molkereien in Nord-, Ost- und Süddeutschland.

Die bisher eingebundenen Bio-Betriebe erzeugen ihre Milch komplett nach den strengen Vorgaben des Pflichtenhefts der Initiative, obwohl sie zurzeit noch einen Teil zu den üblichen Marktpreisen verkaufen. Ziel ist es jedoch, in naher Zukunft die gesamte Erzeugung der Betriebe als Verbrauchermilch zu vermarkten und zu vergüten.

Wachsendes Interesse beim Handel

Auch auf Seiten des Handels wächst nach Einschätzung Barthelmés das Interesse. Schon jetzt findet man die Verbrauchermilch in Märkten von REWE, Hit, Alnatura, Wasgau, Edeka und Tegut. Darüber hinaus ist er auch mit weiteren interessierten Filialen im Gespräch.

"Vor allem in Städten wird das Konzept sehr gut angenommen. In ländlichen Regionen ist es etwas schwieriger", ist seine bisherige Erfahrung. Voraussetzung für eine Zusammenarbeit ist für ihn allerdings, dass die Märkte auch wirklich hinter dem Konzept stehen und die Inhalte gegenüber ihren Kundinnen und Kunden kommunizieren. "Sonst wird es nicht funktionieren", meint Barthelmé.

Als nächsten Schritt plant die Initiative, weitere Produkte einzuführen. Vorgesehen sind in näherer Zukunft eine Verbraucher-H-Milch, Eier und Kartoffeln. Der Fragebogen zu den Eiern wurde bereits von über 10.000 Nutzerinnen und Nutzern ausgefüllt und soll bis zum Ende des Jahres ausgewertet werden, um daraus ein Pflichtenheft und die gewünschten Preise festzulegen. Betriebe für die Erzeugung sind bereits angefragt.

Mehr Wertschätzung für die Arbeit der Landwirtschaft

Auch bei den zukünftigen Produkten will die Initiative ihren Zielen treu bleiben. Barthelmé: "Wir wollen bei Verbrauchern ein größeres Bewusstsein dafür schaffen, wie Lebensmittel hergestellt werden und was ihre Qualität ausmacht. Damit verbunden ist natürlich auch eine größere Wertschätzung für die Arbeit von Landwirten, die über faire Preise für ihre Produkte eine echte Perspektive erhalten sollen."


Letzte Aktualisierung 18.11.2020

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