Studie: München kann sich bio-regional ernähren

Studie: München kann sich bio-regional ernähren

Eine hundertprozentige bio-regionale Ernährung ist bisher noch eine Vision. Doch die Region München könnte es möglich machen. Das zeigt eine aktuelle Studie des Leibniz-Zentrums für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) e.V. Der Studienautor Dr. José Luis Vicente-Vicente erklärt uns im Interview, wie es gehen könnte.

Oekolandbau.de: Was sind die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Studie?

José Luis Vicente-Vicente: Die Bevölkerung in der Region München könnte sich total regional mit Lebensmitteln aus den Regierungsbezirken Oberbayern, Niederbayern und Schwaben ernähren. Trotz hoher Bevölkerungsdichte und bergiger Landschaften. Wir haben das sowohl für die konventionelle als auch die ökologische Produktion von Lebensmitteln errechnet: Selbst wenn die Flächen für den wirtschaftlich wichtigen Hopfenanbau für die Bierproduktion bleiben, reicht ein Radius von 114 Kilometern rund um München als Einzugsgebiet für die regionale Lebensmittelversorgung aus. Bei einer rein ökologischen Bewirtschaftung der Flächen wächst der Radius auf 125 Kilometer. Wenn wir die Lebensmittelverschwendung entlang der Wertschöpfungskette reduzieren könnten, verkleinert sich der Radius um bis zu zehn Kilometer. Noch weniger Fläche benötigten wir, wenn die Menschen dort weniger tierische Lebensmittel wie Fleisch, Milch oder Eier verbrauchen würden. 

Oekolandbau.de: Warum brauchen wir überhaupt mehr Fläche, wenn wir uns mit Bio-Lebensmitteln statt mit konventionell hergestellten ernähren?

Vicente-Vicente: Laut der wissenschaftlichen Literatur könnten biologische Systeme weniger Erträge liefern als konventionelle. Allerdings stammt das Tierfutter in der konventionellen Landwirtschaft in der Regel aus dem Ausland. Zur Erzeugung von Soja und Co. werden in Südamerika Wälder abgeholzt und Agrochemikalien verwendet. Das bedeutet: Was wir hier konsumieren, hat nicht nur bei uns, sondern auch in anderen Ländern Auswirkungen. Das nennen wir Telekopplungseffekte. 

Daher müssen die Ergebnisse unseres Modells bei der Bewertung konventioneller Ernährung sehr vorsichtig betrachtet werden. Es handelt sich um einen virtuellen Landfußabdruck, da er nicht nur hier stattfindet.

Was wir hier konsumieren, hat nicht nur bei uns, sondern auch in anderen Ländern Auswirkungen. Das nennen wir Telekopplungseffekte. 

Oekolandbau.de: Sie schreiben in der Studie, dass Ihr Verständnis von Bio über die EU-Verordnung hinausgeht. Was meinen Sie damit?

Vicente-Vicente: Bei der Pflanzenproduktion meint EU-Bio vor allem den Verzicht auf chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel und Dünger. Aber das reicht nicht. Wir brauchen einen Systemwechsel. Beispielsweise müssen die verwendeten organischen Betriebsmittel wie Dünger am besten vom eigenen Bauernhof oder zumindest aus der Region stammen. 

Bei der Tierproduktion verstehen wir Bio als Systeme, bei denen die Kühe, Schafe oder Ziegen zumindest einen Teil des Jahres weiden. Die Viehhaltung sollte sich auf Gebiete konzentrieren, die sich für den kommerziellen Acker- und Gemüseanbau nicht eignen: in Bayern vor allem in bergigen Lagen. Es geht um eine extensive Viehhaltung auf eher unproduktiven Flächen.

Für den Wandel müssen wir weg von den Monokulturen – selbst wenn sie ökologisch angebaut sind. Stattdessen brauchen wir Agrarökosysteme mit diversen Kulturen und natürlichen Landschaftselementen wie Blühstreifen und Hecken. Nur dann können wir die Menschen regional mit einer Vielfalt an Produkten versorgen und gleichzeitig artenreiche Landschaften schaffen. 

Oekolandbau.de: Wenn wir uns regional ernähren: Was ist mit südländischen Produkten wie Zitronen, Kaffee und Tee? 

Vicente-Vicente: Wir haben alle Lebensmittel ausgeschlossen, die nicht ersetzt werden können. Zum Beispiel Kaffee, Tee und Kakao. Die müssten wir weiterhin importieren. Für viele andere Produkte könnte es ein "regionales Substitutionsprodukt" geben. Also Erdbeeren statt Mangos oder Äpfel und Birnen statt Bananen. Es gilt, mehr saisonale und heimische Früchte zu essen.

Oekolandbau.de: Also gibt es auch keine leckeren Bio-Avocados mehr?

Vicente-Vicente: Nein, Avocados sind tropische Früchte mit einem extrem hohen Wasserverbrauch. Das lässt sich in Chile oder Südspanien gut beobachten, wo durch den intensiven Gemüseanbau ganze Landstriche veröden. 

Oekolandbau.de: Lässt sich das Beispiel München auf andere Regionen übertragen?

Vicente-Vicente: Nicht eins zu eins. Jeder Fall ist anders. Denn die biophysikalischen Gegebenheiten wie Boden, Klima und Geomorphologie sowie die sozioökonomischen Faktoren wie Bevölkerungsdichte, Ernährungspräferenzen und Verwaltungsgrenzen sind unterschiedlich. Wir haben bereits ähnliche Studien in anderen Städten entwickelt. Zum Beispiel besteht das Einzugsgebiet für Lebensmittel in Berlin-Brandenburg aus zwei verschiedenen Bundesländern. Die Geomorphologie ist viel homogener. Dafür sind die Böden dort weniger fruchtbar und liefern geringere Erträge. Daher benötigen wir dort pro Kopf mehr Land, um eine Person zu ernähren, als in München, wo die Böden produktiver sind.  

Oekolandbau.de: Und wie passen regionale Systeme und Welternährung zusammen? Brauchen wir denn nicht die globalisierte Landwirtschaft, um die Weltbevölkerung satt zu bekommen?

Vicente-Vicente: Ich möchte betonen, dass wir die Welt mit der aktuellen Nahrungsmittelproduktion ernähren könnten. Eine Versorgungslücke gibt es zumindest in Europa nicht. Wir müssen nicht mehr produzieren. Das Problem liegt bei der Verteilung und dem Verbrauch. Das Narrativ der "Ertragslücke" wird hauptsächlich von einigen Akteuren im Lebensmittelsystem erzählt, die weiter Agrochemikalien verkaufen und Lebensmittel als Ware behandeln möchten. 

Ein regionalisiertes Lebensmittelsystem wäre effizienter, um Lebensmittelverluste und -verschwendung zu reduzieren. Es ist wirklich wichtig, die Menschen über ethischen Konsum aufzuklären und darüber, dass Lebensmittel nicht perfekt aussehen müssen, damit man sie essen kann.  

Ich möchte betonen, dass wir die Welt mit der aktuellen Nahrungsmittelproduktion ernähren könnten. Eine Versorgungslücke gibt es zumindest in Europa nicht. Wir müssen nicht mehr produzieren. Das Problem liegt bei der Verteilung und dem Verbrauch.

Oekolandbau.de: Gilt das auch in Zeiten von Klimawandel und Krisen?

Vicente-Vicente: Erst recht. Ein diversifiziertes Agrarsystem ist doppelt widerstandsfähig: Erstens sagen uns die wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass diversifizierte Anbausysteme Wetterschocks viel besser verkraften können als Monokulturen und sich auch schneller wieder erholen. Zweitens sind kurze regionale Lieferketten viel weniger anfällig für Störungen als das derzeitige globalisierte Lebensmittelsystem.

Natürlich würde dieses System eine Veränderung in der Art und Weise bedeuten, wie wir Lebensmittel kaufen. Es braucht mehr Initiativen wie etwa Lebensmittelgenossenschaften, um die regionale Lebensmittelproduktion zu kanalisieren und effizient zu verteilen.

Insgesamt geht es uns darum, die Sicht auf die regionale Ernährung zu verändern und Perspektiven aufzuzeigen.

Die Foodshed-Methode

Das Forscherteam des ZALF hat die Ergebnisse mit der sogenannten Foodshed-Modellierung ermittelt. Dabei schätzen die Forschenden, wie viel Land in einem ausgewählten Foodshed (Nahrungsmitteleinzugsgebiet) für die Landwirtschaft zur Verfügung steht. Dann berechnen sie, wie viel Fläche benötigt wird, um die Bevölkerung im Modellgebiet zu ernähren. Dabei berücksichtigen sie lokale Anbaubedingungen, Erträge und landwirtschaftliche Strukturen sowie alternative Produktionsmethoden und Ernährungsgewohnheiten wie zum Beispiel ökologische und flexitarische Ernährungsweisen.

Anschließend vergleichen sie die verfügbare Fläche mit dem Landfußabdruck der Menschen in der Region. Wenn mehr Land zur Verfügung steht als der Bedarf erfordert, liegt der Selbstversorgungsgrad in der Region bei über 100 Prozent. Der Landfußabdruck beschreibt, wie viel Fläche wir für unsere Ernährung benötigen. Wissenschaftliche Studien rechnen etwa mit 2000 Quadratmetern pro Kopf und Jahr. In der ZALF-Studie wurde er für verschiedene Szenarien berechnet: Wenn die Region München sich Bio ernährt, liegt er bei 2258 Quadratmetern pro Kopf und Jahr. Wenn die Menschen dort zusätzlich 50 Prozent weniger Fleisch essen würden, sinkt er auf unter 2000 Quadratmetern pro Kopf. 


Mehr zum Thema auf Oekolandbau.de:

Letzte Aktualisierung 09.10.2023

Nach oben
Nach oben