Lebensmittelverschwendung im LEH

Lebensmittelverschwendung im LEH reduzieren

Lebensmittelhändlerinnen und -händler sollten ihr Qualitätsmanagement kritisch untersuchen und den Verlusten von Lebensmitteln durch Verderb und Bruch entgegenwirken. Der Handel hat Möglichkeiten, die Warenverluste möglichst gering zu halten. Eine bedarfsgerechte Bestellung der Ware ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Jährlich fallen in Deutschland entlang der gesamten Lebensmittelversorgungskette rund zwölf Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle an, etwa sechs Millionen davon allein in Privathaushalten (siehe Kampagne Zu gut für die Tonne!). Auch im Groß- und Einzelhandel werden verdorbene Lebensmittel sowie Produkte, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist, weggeworfen. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hat im September 2020 die erste bundesweite Aktionswoche für Lebensmittelwertschätzung durchgeführt, die auch die Bereiche Primärproduktion, Verarbeitung, Groß- und Einzelhandel sowie Außer-Haus-Verpflegung stärker in den Fokus nimmt. Die Aktionswoche ist Teil der Nationalen Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung. Ihre Ziele: Bis 2030 soll die Lebensmittelverschwendung in Deutschland auf Handels- und Verbraucherebene halbiert und das Anfallen von Lebensmittelabfälle entlang der Produktions- und Lieferkette verringert werden.

Dialogforum Groß- und Einzelhandel

Mit dem Ziel, Lebensmittelabfälle im Groß- und Einzelhandel in Deutschland systematisch zu verringern, startete im September 2019 das Dialogforum Groß- und Einzelhandel. Als Bindeglied zwischen Verbraucherinnen und Verbrauchern und den Lebensmittel erzeugenden Betrieben komme dem Lebensmitteleinzelhandel eine wichtige Rolle zu. Mit den richtigen Maßnahmen soll die Wertschätzung von Lebensmitteln gefördert und ein verantwortungsvollerer Umgang mit Lebensmitteln in der Gesellschaft gestärkt werden.

Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft fördert das Forum mit rund 700.000 Euro. Im Projektzeitraum von drei Jahren sollen konkrete Maßnahmen und Aktivitäten für Unternehmen erarbeitet werden und eine Zielvereinbarung für den Handel verabschiedet werden. Zudem soll die Datenerhebung von Lebensmittelabfällen im Handel unterstützt werden. 21 Groß- und Einzelhandelsunternehmen haben im Juni 2020 durch ihre Unterzeichnung der Beteiligungserklärung zum Dialogforum Groß- und Einzelhandel ein Zeichen für ihr Engagement zur Reduzierung von Lebensmittelverschwendung gesetzt. Darunter befinden sich sechs reine Bio-Unternehmen genauso wie die meisten großen Handelsketten in Deutschland, die auch Bio-Produkte handeln. Weitere Handelsunternehmen können sich der Initiative noch anschließen.

Wo treten Lebensmittelverluste im Lebensmittelhandel auf?

Bei der Produktion für den Frischmarkt gehen durchschnittlich mehr als 25 Prozent der genussfähigen Salate und Möhren verloren, so das Ergebnis des Forschungsprojekts REFOWAS (siehe Thünen Report 73 (PDF_Datei)). Auf den nachgelagerten Stufen der Wertschöpfungskette verursachen lange Transportwege, witterungsbedingte Nachfrageschwankungen und das Wareneinkaufsmanagement in den Filialen des Lebensmitteleinzelhandels (LEH) zum Teil für hohe Verluste. Auch die LEH-Vorgaben zum Mindesthaltbarkeitsdatum führen zu den Abschriften, die teilweise bis zu fünf Prozent und mehr betragen – je nach Warengruppe. Besonders hohe Verluste treten bei Gemüse und Obst auf.

Was sind Abschriften?

Abschriften werden die Verluste im Einzelhandel genannt, die den Rohertrag schmälern. Abschriften sind damit nicht zu verwechseln mit Abschreibungen, die im Rechnungswesen die Wertminderungen in Anlage- und Umlaufvermögen erfassen.
(Quelle: Lebensmitteleinzelhandel.com)

Die EHI Retail Institute GmbH (EHI) veröffentlichte im September 2011 eine Studie, welche die Umsatzverluste durch Bruch und Verderb von Lebensmitteln im deutschen Lebensmitteleinzelhandel (LEH) untersuchte. Die höchsten Abschriften entstehen nach Brot- und Backwaren bei frischem Obst und Gemüse.

Tipps zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen:

  • Optimierung von Bestellpolitik und -prozess sowie der Kommunikation zwischen der Kundschaft und den Lebensmittelerzeugerinnen und -erzeugern. (Marktschwärmerei als Vorbild)
  • kurze Transportwege (Regionalität)
  • Mehrstufen-System: Preisreduzierung von Waren zum Ende des Mindesthaltbarkeitsdatums (MHD) beispielsweise mit 20 Prozent oder 50 Prozent Minderung vom Verkaufspreis; Backwarenangebote vom Vortag; Abgabe von nicht verkaufsfähiger Ware an Mitarbeitende, Lebensmittelretter sowie Institutionen wie Tafeln, lokale gemeinnützige Vereine
  • Aufklärung und thematische Sensibilisierung von Kundinnen und Kunden
  • Saisonale Verkaufsstrategien (Saisonale Begrenzung beim Obst- und Gemüseverkauf)
  • Bedarfsgerechte Bestellung: Anpassung des Warenangebots an die saisonale Nachfrage (beispielsweise Spargel zu Ostern)
  • Platzierung neuer Ware hinter oder unter der älteren Ware („first in- first out Prinzip“)
  • Angebot von nicht der Norm entsprechenden Lebensmitteln, anstatt diese im Vorfeld bereits auszusortieren

Bereits früh in der Wertschöpfungskette werden essbare Lebensmittel wegen der hohen Ansprüche des Handels an die äußere Qualität aussortiert. Die krumme Gurke steht schon fast symbolisch dafür: Obwohl sie geschmacklich ohne Einbußen ist, wird sie aussortiert, weil sie sich nicht effizient lagern und weiterverarbeiten lässt. Aber auch Äpfel mit kleinen Fehlstellen oder verwachsene Kartoffeln kommen gar nicht erst ins Verkaufsregal, weil sie schlechter verkäuflich sind. Damit die Auslage bis abends voll ist, wird auch spät am Tag Brot gebacken, das dann niemand mehr kauft.

Einige Handelsketten haben bereits reagiert und verkaufen Obst und Gemüse, welches äußerlich nicht mehr makellos ist, zu einem reduzierten Preis. Die Bio-Helden bei Penny sind seit 2016 ein Beispiel für die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung. Außerdem spenden viele Unternehmen regelmäßig Lebensmittel, die nicht mehr verkauft, aber noch gegessen werden können, an die Tafeln. Diese Spenden sind jedoch freiwillig – anders als in Frankreich: Dort sind Supermärkte mit einer Ladenfläche von mehr als 400 Quadratmetern verpflichtet, ihre unverkauften Lebensmittel an gemeinnützige Organisationen zu spenden. Supermärkte, die dennoch Lebensmittel wegwerfen, können hohe Bußgelder erhalten.

In der Initiative Foodsharing.de kooperieren Handelsunternehmen mit den sogenannten Foodsavern gegen Lebensmittelverschwendung. Foodsaver sind die Personen, die die vom Lebensmitteleinzelhandel abgegeben Lebensmittel entgegennehmen. Ein Großteil der geretteten Lebensmittel wird bei den Foodsavern an Vereine, Tafeln, Suppenküchen, Freundinnen oder Freunde, Nachbarinnen oder Nachbarn, und über das foodsharing-Netzwerk oder Fair-Teiler (öffentliche Regale zum Austausch von Lebensmitteln) verschenkt. Die Betriebe können ihre Lebensmittelabfälle reduzieren und ein Zeichen gegen Lebensmittelverschwendung setzen.

Vier Fragen an Marktexperten Dr. Hans-Christoph Behr

Oekolandbau.de fragt Dr. Hans-Christoph Behr, Marktexperte für Obst und Gemüse bei der Agrarmarkt Informations-Gesellschaft mbH (AMI) zu seiner Einschätzung der Lebensmittelverluste im Handel.

Oekolandbau.de: Warum sind die Abschriften von Obst und Gemüse im Handel so hoch?

Behr: Bei Obst und Gemüse wird von relativ hohen Abschriften ausgegangen. Die meisten Verluste entstehen durch Verderb zum Beispiel dem Ablaufen des MHD oder Verbrauchsdatums, ein kleinerer Teil entsteht durch Bruch der Ware. Verluste sind bei frischem Obst und Gemüse verständlicherweise höher als im Trockensortiment wie beispielsweise Konserven oder Tiefkühlware.

Oekolandbau.de: Gibt es bestimmte Gemüse- und Obstarten, die besonders hohe Abschriften haben?

Behr: Die Abschriften bei Standardartikeln wie Möhren und Äpfel, die kontinuierlich abverkauft werden, weniger empfindlich sind und nicht lange im Laden liegen, sind auf jeden Fall niedriger. Bei Fresh Cut-Salaten werden sicherlich höhere Abschriften erreicht. Auch weniger gängige Produkte, wie zum Beispiel Fenchel haben höhere Abschriften. Der Einzelhändler nimmt eine ganze Kiste ab, verkauft aber nur wenige Stück. Hier werden die hohen Verluste in Kauf genommen, um ein breites Sortiment anbieten zu können.

Auch Blattgemüse hat höhere Verluste im Handel, weil es empfindlich ist, und dasselbe gilt auch für Beerenobst, auch wenn hier durch die aufwändige Verpackungstechnik der Verderb der empfindlichen Beeren schon deutlich gesenkt wurde.

Oekolandbau.de: Wie kann der Handel Abschriften minimieren?

Behr: Optimierte Verpackungen können durch ihre Schutzfunktionen helfen, Lebensmittelabfälle zu reduzieren. Verdunstungsschutz vermindert Abschriften erheblich. Auch Schutzeigenschaften gegen Druck erhöhen die Haltbarkeit des Produkts. Der Verkauf von Beerenobst ohne Schutzverpackung wäre im LEH nicht möglich. Die Konsumentin beziehungsweise der Konsument wollen Obst und Gemüse besonders frisch und lose einkaufen. Dann gibt es gewissermaßen ein Paradox. So werden zum Beispiel Bundmöhren mit Grün im Laden angeboten. Das grüne Laub signalisiert die Frische der Möhren, erhöht jedoch die Verderblichkeit. Gemüse und Obst atmet nach der Ernte im Laden weiter und die Möhren wären ohne das Laub länger haltbar.

Oekolandbau.de: Gibt es Konzepte des Handels, wie der Lebensmittelverschwendung entgegengewirkt werden kann?

Behr: Ja, auf jeden Fall, denn der Handel hat ja schon allein aus wirtschaftlichen Gründen ein großes Interesse, Lebensmittelverluste zu vermeiden. Beispielsweise haben manche Einzelhändlerinnen und -händler erkannt, dass es besser ist, hochwertige Produkte an der Theke zu verkaufen. Die Kundschaft kauft dann wirklich nur das ein, was zum Essen benötigt wird und die Produkte werden frisch eingepackt. Auch hat man bei Thekenware einen konkreten Verzehranlass im Kopf und kauft sich die Zutaten für geplante Mahlzeiten.

Wie hoch sind die Abschriften beim Bio-Handel?

Es gibt sehr wenig Zahlen zu den Verlusten des Bio-Handels durch den Verderb von Bio-Lebensmitteln. Axel Wirz, zuständig für Marketing, Bewertung von Nachhaltigkeit und Regionalentwicklung beim Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) in Deutschland, schätzt die Abschriften im Bio-Handel ähnlich hoch ein wie im konventionellen LEH. Im Sommer 2020 wurde das Projekt „Kennzahlenermittlung von Hofläden und Entwicklung eines Auswertungstools für horizontalen und vertikalen Kennzahlenvergleich“ abgeschlossen. Im Rahmen des Kennzahlenvergleichs von Hofläden wurden auch Zahlen zum prozentualen Wareneinsatz, sowohl von konventionell als auch ökologischen direktvermarktenden Betrieben, ermittelt. Es gab bei den Hofläden keinen Unterschied zwischen konventionell und bio, bei gut geführten Bio-Supermärkten dürften die Verluste jedoch geringer sein als bei den Bioläden. Axel Wirz schätzt den Warenverlust bei den Hofläden im Schnitt bei rund 10 Prozent. Bei schnellverderblichem Obst und Gemüse können aber auch schon mal bis 20 bis 30 Prozent aussortiert werden.

Bei Obst und Gemüse liegt der Aufschlagsfaktor bei bis zu 1,8. Das bedeutet, dass der Handel, um den Listenverkaufspreis für die Endkonsumentinnen und Endkonsumenten zu berechnen, das bis zu 1,8-fache des Einkaufs- beziehungsweise Bezugspreises aufschlagen muss. In diesem Kalkulationsfaktor sind unter anderem die Warenverluste durch Verderb einberechnet.

Verpackungen können Lebensmittelabfälle reduzieren

Verpackungen tragen einen widersprüchlichen Teil zur Nachhaltigkeit von Lebensmitteln bei: Während der Herstellung werden Ressourcen verbraucht und Treibhausgase ausgestoßen und landen am Ende im Müll. Optimierte Verpackungen können aber durchaus die Haltbarkeit eines Produkts verlängern und dadurch wiederum zur Reduktion von Abfällen im Handel führen. In einem Leitfaden für Verpackungshersteller, Lebensmittelverarbeiter, Handel, Politik & NGOs (PDF-Datei)  konnte an sechs konkret untersuchten Beispielen der Zusammenhang zwischen erhöhter Mindesthaltbarkeit und reduzierter Abfallmenge ausgewertet werden. Dieser Leitfaden entstand aus den Ergebnissen des Forschungsprojekts „STOP waste – SAVE food“ (2016 – 2020). Im Schnitt senkte eine Verdoppelung der Mindesthaltbarkeit die Abfallrate im Handel um etwa 40 Prozent, eine Verdreifachung um etwa 80 Prozent.

In der Praxis können allerdings auch kontraproduktive Effekte auftreten, die die angestrebte Abfallreduktion aufheben oder sogar ins Gegenteil verkehren. So kann verlängerte Haltbarkeit sowohl im Handel als auch beim Haushalt dazu führen, dass zu viele Produkte gleichzeitig angeboten beziehungsweise eingekauft werden, oder sich aus anderen Gründen die Dauer der Lagerung verlängert, wodurch die Abfallmenge wieder steigen kann.

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Trend im Handel, Lebensmittel ohne Verpackungen anzubieten. Hierzu hat der Lebensmittelhändler REWE mit unverpacktem Obst und Gemüse bundesweit Daten gesammelt, welche Auswirkungen der Verpackungsverzicht auf die Verderblichkeit hat.

"Unverpackt-Tests" von Bio-Obst und -Gemüse ergaben, dass mit unverpacktem Bio-Eisbergsalat bundesweit 3.000 Kilogramm Plastik jährlich eingespart werden könnten. Durch die fehlende schützende Hülle würden aber im gleichen Zeitraum voraussichtlich 18,5 Tonnen Bio-Eisbergsalat derart an Frische und Qualität im Markt einbüßen, dass sie unverkäuflich werden. Die dünnen Folien beugen mit einem sehr geringen Ressourcenverbrauch also effektiv der Lebensmittelverschwendung vor. Erhöhte Abschriften hat REWE auch bei Bio-Broccoli verzeichnet, der ohne Folie schneller aufblüht und an Frische verliert. Hoch empfindliche Beerenfrüchte sowie frische Blattsalate wie Feldsalat, Rucola und Romanasalatherzen in Bio-Qualität müssen ebenso geschützt in optimierten Verpackungen angeboten werden, was zum Beispiel bei Beeren größtenteils bereits umgesetzt ist.

Die Reduzierung von Verpackungen ist für die Müllvermeidung wichtig. Optimierte Verpackungen können jedoch die Haltbarkeit eines Produkts verlängern und dadurch wiederum zur Reduktion von Abfällen im Handel führen. Der Handel sollte frische Lebensmittel planvoll disponieren, um Verluste durch Verderb oder Ablauf der Mindesthaltbarkeit zu minimieren.


Letzte Aktualisierung 08.10.2020

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