Oekolandbau.de: Sie forschen auch zum Thema Systemtransformation und sprechen von sozialen Kippelementen – angelehnt an die Klima-Kippelemente. Worum geht es da genau?
Otto: Kippelemente sind Teile von einem Gesamtsystem, die sehr wirksam für das System sind. Das sind Teile in denen kleine Änderungen zu großen Systemeffekten führen können. Diese Definition von Kippelemente kann auch in sozialen, ökonomischen und politischen Systemen angewendet werden.
Der Unterschied ist aber, dass wir – wenigstens theoretisch – mit Absicht in Sozialen Systemen intervenieren können und das System in eine bestimmte Richtung navigieren. Zum Beispiel haben im Klima oder in natürlichen Systemen die Systemkomponenten, so weit wie wir sie kennen, keine Absichten oder Intentionen. Darum schlage ich vor, den Begriff von sozialen Kippinterventionen zu nutzen. Soziale Kippinterventionen sind Interventionen in bestimmten Kippelementen, die das System in eine konkrete Richtung pushen können.
In meiner Forschung frage ich: Was sind die Kandidaten für soziale Kippinterventionen sowie Kippelemente für eine rasche und globale Transformation zu einem Netto-Null Emissionen System? In den letzten Jahren habe ich sechs soziale Kippelemente und sieben soziale Kippinterventionen vorgeschlagen. Das sind die Abschaffung von Subventionen für fossile Energien bei gleichzeitiger Förderung der dezentralen Energieerzeugung, der Bau treibhausgasneutraler Städte, die Veräußerung von Vermögenswerten, die mit fossilen Energien verbunden sind, die Aufdeckung möglicher moralischer Dimensionen der fossilen Energien, Verbesserungen in der Klimabildung sowie eine durchwegs transparente Offenlegung von Treibhausgasemissionen.
Oekolandbau.de: Wann werden wir diese sozialen Kipp-Elemente Ihrer Meinung nach erreichen?
Otto: Das ist schwer zu sagen und ich habe keine Glaskugel. Ich denke, erst nach mehreren Jahren wird es möglich sein zu sagen, dass das der Punkt war, ab dem alles sich verändert hat. Genau so wenig konnten wir das Ende des Kommunismus nicht vorhersagen und momentan ist es schwer zu sagen, was den Krieg in der Ukraine beenden wird. Soziale Systeme sind komplexe Systeme und das Verhalten von komplexen Systemen kann man nicht vorhersagen.
Es gibt aber einige Trends, die zeigen, dass es möglich ist, dass wir schon auf dem Weg zu einem neuen klimaneutralen System sind. Zum Beispiel ist momentan der Preis von Energie aus erneuerbaren Quellen in vielen Fällen schon niedriger als der Preis von Energie aus Öl, Gas oder Kohle. Wenn man jetzt ein neues Haus baut, ist die Wärmepumpe die erste Wahl, auch ohne Subventionen. Die Subventionen und Regulierungen führen dazu, dass sich die klimafreundlichen Lösungen noch schneller verbreiten und das ist genau das, was wir brauchen um alles noch schneller zu bewegen und noch schneller Klimaneutralität zu erreichen.
Oekolandbau.de: Die neue Studie des Umweltbundesamtes und des Bundesamts für Naturschutz zum Naturbewusstsein in der deutschen Bevölkerung kommt zum Ergebnis: Die Mehrheit der Bevölkerung hält einen umfassenden transformativen Wandel unserer Lebens- und Wirtschaftsweisen hin zu mehr Nachhaltigkeit und Naturverträglichkeit für notwendig und ist bereit, diesen Wandel mitzutragen. Warum sind nachhaltige Lösungsmaßnahmen wie zum Beispiel die ökologische Wirtschaftsweise nicht schon weitverbreiteter?
Otto: Das Problem ist, dass wir in dem aktuellen System falsche Anreize haben. Die Subventionen in der EU-Agrarpolitik unterstützen immer noch einen traditionellen, Energie- und Eingabeintensiven Produktionsmodus. Die Handelsketten sind orientiert an haltbaren Produkten und lange Handelsketten. Ich denke die Konsumenten und sogar die Produzenten sind bereit für Änderungen, wir müssen aber auch die Infrastruktur und die Organisation des Lebensmittelsystems ändern, sodass nachhaltige und klimafreundliche Produkte die erste Wahl sind, dann sind sie leicht erreichbar und bringen Vorteile für beide Seiten: Produzenten und Konsumenten.
Oekolandbau.de: Die Bundesregierung will den Anteil des Öko-Landbaus bis 2030 auf 30 Prozent erhöhen. Dafür ist eine Verdreifachung der aktuellen Fläche notwendig – eine große Aufgabe also. Halten Sie das für ein sinnvolles Ziel? Und wenn ja, welche gesellschaftlichen Stellschrauben müssen für so eine Herausforderung gedreht werden?