Idealerweise sollte die ökologische Milchviehhaltung in Stallsystemen erfolgen, die für behornte Kühe geeignet sind. Also großzügig bemessene Laufställe, in denen die Tiere einander ungehindert ausweichen können. Doch nur wenige Betriebe haben derart großzügige Ställe. Das Halten hornloser Tiere ist daher für viele Öko-Betriebe ein notwendiger Kompromiss.
Üblicherweise wird den Kälbern in den ersten Wochen nach der Geburt mit einem Brenneisen die Hornanlage ausgebrannt. Diese Form der Enthornung wird auch in den meisten rinderhaltenden Öko-Betrieben praktiziert. Öko-Halterinnen und -Halter müssen dafür jedoch einen Antrag bei der Kontrollbehörde stellen und die Tiere vor dem Eingriff durch einen Tierarzt lokal betäuben lassen. In der konventionellen Haltung reicht es bislang aus, wenn die Landwirtin oder der Landwirt dem Kalb vor dem Eingriff ein Beruhigungs- und Schmerzmittel verabreicht.
Trotz Beruhigungs- und Schmerzmittelgabe ist dieser Eingriff für das Tier unangenehm. Außerdem entstehen dem Betrieb dadurch Arbeit und Kosten. Immer mehr Bio-Rinderhalterinnen und -halter denken daher darüber nach, genetisch hornlose Tiere in ihre Herde einzukreuzen.
Hornlosigkeit lässt sich vererben
Natürliche Hornlosigkeit ist bei Rindern zwar selten, aber nichts Ungewöhnliches. Rassen wie Angus oder Galloway sind beispielsweise genetisch komplett hornlos, das heißt kein Tier dieser Rassen wird mit Hörnern geboren. Auch bei typischerweise behornten Rinderrassen kommt es durch genetische Mutationen immer wieder dazu, dass Tiere mit fehlenden oder nur unzureichend ausgebildeten Hörnern geboren werden. Noch vor 80 Jahren war die Weiterzucht solcher Tiere für die Landwirtschaft kaum von Interesse. Denn die Tiere wurden damals nicht nur für die Milch- und Fleischversorgung genutzt, sondern auch als Zugtiere. An dem Horn ließ sich das Joch gut befestigen. Als Rinder dann ab Mitte des letzten Jahrhunderts als Zugtiere nicht mehr benötigt wurden, schenkte man auch der züchterischen Weiterentwicklung von hornlosen Tieren mehr Beachtung.
Hornlos-Bullen immer gefragter
Erste ernstzunehmende Bemühungen einer gezielten Hornloszucht gab es in der Zucht von hornlosen Fleckviehbullen ab den 1970er-Jahren, allerdings vorwiegend für die Fleischrinderhaltung. "Seit etwa 2006 nimmt auch die Nachfrage nach hornlosen Besamungsbullen bei den Milchvieh- und Zweinutzungsrassen, insbesondere Fleckvieh und Holstein erkennbar zu", sagt Carsten Scheper, Wissenschaftler am Institut für Tierzucht und Haustiergenetik der Justus-Liebig-Universität Gießen. "Einen regelrechten Boom erfuhr die Besamung der Kühe mit genetisch hornlosen Bullen etwa ab 2010, als das Enthornen der Tiere stärker in den Fokus der Tierschutzdebatte rückte." Mit der Verschärfung der Enthornungsauflagen im Jahr 2015 – seitdem müssen in der konventionellen Haltung Beruhigungs- und Schmerzmitteln verwendet werden – ist die Nachfrage nach Hornlos-Bullen weiter gestiegen: Laut Vereinigte Informationssysteme Tierhaltung (VIT) lag der Anteil an Besamungen mit Hornlos-Bullen im Jahr 2020 bei der Rasse Holstein Rotbunt bei 54 Prozent. Scheper geht davon aus, dass der Anteil an Hornlosbesamungen im Öko-Bereich aufgrund der höheren Anforderungen an das Enthornen noch höher liegt als im konventionellen Bereich.
Kritik an der Hornloszucht
Doch auch wenn zahlreiche Bio-Betriebe inzwischen auf Hornlos-Bullen zurückgreifen, ist die Hornloszucht in der ökologischen Landwirtschaft nicht ohne Kritik. Einige Bio-Verbände – darunter besonders der Demeter-Verband, dessen Richtlinie das Halten behornter Rinder vorschreibt – befürchten, dass es durch die Verengung auf hornlose Vererber, zum Beispiel in der Rasse Holstein, mittel- bis langfristig zu einem Problem werden könnte, behornte Tiere zu züchten. „Hornlosigkeit vererbt sich dominant,“ sagt Scheper. „Das heißt, die Vererbung der Hornlosigkeit von lediglich einem Elternteil auf den Nachkommen reicht aus, damit dieser phänotypisch hornlos geboren wird. Dies mache eine relativ schnelle Etablierung der Hornlosigkeit in den Herden und Zuchtprogrammen möglich.
Kritische Öko-Landwirtinnen und -Landwirte sowie -Verbände geben außerdem zu bedenken, dass das Horn der Kuh schon deswegen nicht entfernt werden dürfe, weil es zahlreiche Funktionen erfüllt. So hat das Horn eine wesentliche Bedeutung für die Körpersprache der Tiere und damit für die Herdenhierarchie. Und auch zur Körperpflege werden die Hörner genutzt. Zudem gelten in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft die Hörner neben dem Verdauungstrakt als wichtigstes Organ der Kuh. Nach Meinung von Demeter hat das Horn demnach auch Einfluss auf die Qualität der Milch.