Wie lässt sich mit Nudging die Ernährungsumgebung gestalten?
Foto: Laura Freitag
Warum sind "Nudges" im Diskurs um eine nachhaltigere Ernährung so beliebt? Wo liegen die Grenzen dieser Methode? Und ist Nudging nicht doch eine sanfte Form der Bevormundung? Oekolandbau.de sprach darüber mit Prof. Nina Langen von der TU Berlin.
Die Wissenschaftlerin leitet als W3-Professorin das Fachgebiet Bildung für Nachhaltige Ernährung und Lebensmittelwissenschaft am Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre der Technischen Universität Berlin und befasst sich seit vielen Jahren unter anderem mit dem Thema "Nudging".
Was sind Nudges?
Die amerikanischen Wissenschaftler Richard Thaler und Cass Sunstein verstehen unter Nudges "alle Maßnahmen, mit denen Entscheidungsarchitekten das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise verändern können, ohne irgendwelche Optionen auszuschließen oder wirtschaftliche Anreize stark zu verändern. Ein Nudge muss zugleich leicht und ohne großen Aufwand zu umgehen sein. Es ist nur ein Anstoß, keine Anordnung".
Prof. Nina Langen, TU Berlin, forscht seit vielen Jahren zum Thema Nudging.
Foto: Julia Heinz
Oekolandbau.de: Im Diskurs zur Transformation unseres Ernährungssystems wird häufig der Begriff Nudging genannt. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Prof. Langen: Zunächst einmal sind Nudges in aller Regel niederschwellig und ohne großen Aufwand und Kosten umzusetzen. Zum anderen liegt es in ihrem Charakter, dass sie immer die Wahlfreiheit offenlassen. Das paternalistische "das sollst du essen, jenes nicht" stört uns, weil wir nicht bevormundet werden wollen. Nudges vermeiden dagegen Konflikte und Diskussionen um die "richtigen" Entscheidungen. Dahinter steht mutmaßlich die Angst, mit den Tischgästen in eine möglicherweise kontroverse Diskussion zu gehen.
Oekolandbau.de: In welcher Größenordnung können mit Nudges Veränderungseffekte erzielt werden?
Prof. Langen: Unsere eigenen empirischen Studien im Bereich der Gemeinschaftsverpflegung zeigen, dass beispielsweise durch die zielgerichtete Wahl der Ausgabeposition die Nachfrage nach dem nachhaltigsten Gericht um 22,5 Prozent gesteigert werden konnte. Allerdings legen die Ergebnisse nahe, dass die Wirksamkeit von Nudges in der Praxis stark von den spezifischen Bedingungen vor Ort abhängen. Mit Nudges allein lassen sich erwünschte Auswahlentscheidungen wie beispielsweise die Wahl von zuckerfreien Getränken nicht zu 100 Prozent herbeiführen.
Oekolandbau.de: Nudges haben also klare Grenzen?
Prof. Langen: Auf jeden Fall. Sie wirken nicht so durchgängig, wie beispielsweise ein Verbot. Außerdem haben wir in der Forschung inzwischen viele Informationen über kurzfristige Effekte; aber wir wissen noch wenig darüber, wie sich das Entscheidungsverhalten im täglichen Wiederholungsfall entwickelt. Es ist deshalb wichtig, dass wir Ernährungsumgebungen so verändern, dass wir eine möglichst dauerhafte Verhaltensänderung erreichen.
Oekolandbau.de: Reichen Nudges, um die vielfältigen, in unserem Ernährungssystem notwendigen Veränderungen zu erreichen?
Prof. Langen: Schick ist alles, was mit Nudging-Effekten funktioniert. Das sollten wir auch nutzen. Wo es geht, können wir Ernährungsumgebungen so gestalten, dass sie ein nachhaltiges Angebot bieten. Aber es stellt sich natürlich die Frage, ob wir angesichts des vorhandenen Handlungsdruckes die Zeit haben, alle notwendigen Veränderungsprozesse mit solchen Mitteln zu erreichen. Wir sollten deshalb bewährte Beispiele mit Nachdruck besser in die Umsetzung bringen. Um einen nachhaltigeren Konsum zu erreichen, brauchen wir auch eingriffstiefere Instrumente. So wissen wir doch heute, wie wir Bio-Kriterien, ein saisonales Angebot von Frischeprodukten oder das regionale Sourcing in Ausschreibungen zur Gemeinschaftsverpflegung verankern können – wieso machen wir das dann nicht einfach in der Breite?
Welche Arten von Nudges gibt es?
Defaults einrichten: Hier werden Standards oder Voreinstellungen so gesetzt, dass sie das Verhalten im Sinne einer nachhaltigen Ernährung in eine bestimmte Richtung lenken: Beispiel: Direkt beim kostenlosen Wasserspender stehen große Trinkbecher.
Zugänglichkeiten gestalten: Die erwünschten Optionen werden leichter zugänglich gemacht, die Wahl der weniger erwünschten Optionen etwas aufwändiger gestaltet. Beispiel: Das vegetarische Menü wird im Speiseplan als "Gericht 1" ausgelobt. Im Frühstücksbuffet im Hotel wird Süßgebäck angeboten – aber nicht an prominenter Stelle. Dort steht die Schale mit frischem Obst zum Mitnehmen.
Framing und Informationsarchitektur nutzen: Die Entscheidungsfindung der Tischgäste hängt (auch) von der Präsentation bzw. Darstellung des Entscheidungskontextes ab. Hier spielen Informationen, Farben, Bilder und Symbole eine wichtige Rolle. Beispiel: Hinweis-Schild am Wasserspender (siehe Foto).
Soziale Nudges befördern: In der Gemeinschaftsverpflegung essen die Menschen nicht allein und werden deshalb automatisch durch die Wahlentscheidungen anderer Tischgäste bzw. Kommentare des Küchenpersonals beeinflusst. Beispiel: Die Küchenkräfte an der Ausgabetheke einer Mensa laden ohne Druck dazu ein, einmal auch jenes neu eingeführte vegetarische Gericht auszuprobieren.
Ernährungsumgebung gestalten: Wasserspender im Frühstücksbuffet einmal ohne und einmal mit Hinweisschild. Foto: Laura Freitag
Oekolandbau.de: Was sagen Sie zur Kritik, dass Nudging - mit dem dahinterstehenden Konzept des libertären Paternalismus - den liberalen Grundwerten unserer Demokratie widerspricht? Müssen wir demnach den Menschen erklären, was besser für sie und die Welt ist?
Prof. Langen: Viele wissenschaftliche und andere Studien zeigen, dass sich die Mehrheit der Menschen eine intakte Umwelt und eine gesundheitsförderliche und nachhaltige Ernährung wünschen.
Nudging in diese Richtung widerspricht also nicht den formulierten Wünschen der Tischgäste. Außerdem haben wir in vielen Bereichen, in denen Menschen ihre Lebensmittel auswählen, keine neutrale Ernährungsumgebung. In Supermärken wird mit Marketingmaßnahmen intensiv versucht, die Menschen in ihrem Kaufverhalten zu beeinflussen. Wieso soll es erlaubt sein, dass Unternehmen zur Maximierung ihrer Gewinne Ernährungsumgebungen gestalten, aber der Staat bzw. öffentliche Einrichtungen dürfen das nicht, wenn es um Ziele im Sinne des Gemeinwohls geht?
Oekolandbau.de: Was empfehlen Sie Verantwortlichen aus der Praxis der Gemeinschaftsverpflegung? Wie sollten sie Nudges einsetzen?
Prof. Langen: Auf jeden Fall sollten sie die Möglichkeiten des Nudgings nutzen. Sie brauchen dafür nicht das Rad neu zu erfinden. Es gibt inzwischen viele Vorschläge und Materialien, die sich in der Praxis bewährt haben. So haben wir beispielsweise im interdisziplinären Verbundprojekt "Biodiversität über den Tellerrand" (BiTe) verschiedene Aktionen und Materialen wie Flyer und Poster entwickelt, an denen sich Verantwortliche der Gemeinschaftsverpflegung Anregungen holen können.
Ganz aktuell hat die TU Berlin ein "Nudge Booklet" (PDF-Datei) herausgebracht, in dem zu verschiedenen Nudges Theorie, Forschungsstand und beispielhafte Umsetzung erläutert werden.
In der Praxis erprobte Empfehlungen für Nudges:
Platzieren Sie das vegetarische bzw. Bio-Gericht an erster Stelle im Speiseplan bzw. räumlich an der ersten Ausgabestelle.
Animieren Sie die Gäste mit leicht zugänglichen "Häppchen" einmal etwas Neues auszuprobieren.
Präsentieren Sie einen Warenkorb zu den Gemüsesorten, die im Gericht des Tages verarbeitet wurden.
Zeigen Sie mit einem gut sichtbaren Musterteller im Eingangsbereich, welches Gericht Sie besonders hervorheben möchten.
Verwenden Sie attraktives Geschirr für Salate oder Obst in Bioqualität.
Bieten Sie Bio-Obst an prominenter Stelle und mit unterschiedlichen Darreichungsformen an, zum Beispiel als Obstsalat, als Stückobst, in einer to-go-Variante etc.
Weisen Sie optisch attraktiv auf das Bio-Angebot hin, beispielsweise durch Hinweisschilder mit dem Bio-Siegel, grüne Tabletts, farbliche Codierung etc.
Die Bilder mit Nudges aus dem Frühstücksbuffet eines Hotels hat uns freundlicherweise Laura Freitag aus ihrer Bachelor-Arbeit an der TU Nürnberg zur Verfügung gestellt.
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