WBAE-Gutachten 2025

Was bringt das neue WBAE-Gutachten – speziell für die AHV?

In seinem neuen Gutachten plädiert der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) dafür, Alternativprodukte zu tierischen Erzeugnissen stärker in den Fokus zu nehmen. Prof. Achim Spiller, Vorsitzender des WBAE, nennt im Interview die Gründe und macht sich stark für einen fairen Wettbewerb in diesem Bereich.

Wer ist und was macht der WBAE?

Der 1950 gegründete Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) ist ein interdisziplinär zusammengesetztes, unabhängiges wissenschaftliches Gremium. Es berät das Bundeslandwirtschaftsministerium bei der Entwicklung seiner Politik. Der ehrenamtlich arbeitende WBAE veröffentlicht dazu Gutachten und Stellungnahmen zu selbstgewählten Themen. Dem Beirat gehören 16 Mitglieder an, die auf unterschiedlichen Fachgebieten Fragestellungen der Agrar- und Ernährungspolitik, der Landbewirtschaftung und der ländlichen Entwicklung bearbeiten. Sie werden vom Bundesministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Heimat für die Dauer von drei Jahren berufen.

Nationale wie internationale Forschungsteams empfehlen seit Jahren, weniger tierische und mehr pflanzliche Produkte zu konsumieren. Die EAT-Lancet-Kommission hat dazu das Konzept der Planetary Health Diet entwickelt.

Aber welchen Beitrag können Alternativprodukte zu tierischen Lebensmitteln zu einer nachhaltigeren Ernährung leisten? Genau zu diesem Thema hat das 16-köpfige Gremium des WBAE mit wissenschaftlicher Expertise aus ganz unterschiedlichen Fachbereichen jetzt ein rund 400 Seiten starkes Gutachten vorgelegt. Prof. Dr. Achim Spiller, Professor für "Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte" am Department für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung der Georg-August-Universität Göttingen erläutert im Interview mit der Ökolandbau-Redaktion zentrale Aussagen.

Was sind "Alternativprodukte" im Kontext des WBAE-Gutachtens?

Alternativprodukte sind Lebensmittel, die speziell entwickelt und vermarktet werden mit dem Ziel, den sensorischen und funktionellen Eigenschaften tierischer Erzeugnisse möglichst nahe zu kommen. Pflanzenbasierte Alternativprodukte basieren häufig auf proteinreichen Hülsenfrüchten wie Soja, Erbsen und Linsen oder Nüssen oder Getreide. Biotechnologische Alternativprodukte entstehen durch Biomassefermentation oder Zellkultivierung.

Funktionelle Ähnlichkeiten

Aufgrund ihrer ähnlichen Handhabung und Zubereitung lassen sich die Produkte ohne wesentliche Änderungen in gewohnte Routinen einbauen.

Sensorische Ähnlichkeiten

Alternativprodukte weisen ähnliche sensorische Eigenschaften auf. Neben Geschmack und Geruch sind das ihr Aussehen und ihre Haptik. Dadurch fällt Tischgästen der Umstieg auf solche Produkte leichter.

Oekolandbau.de: Warum legt der WBAE den Fokus gerade auf Alternativprodukte zu tierischen Erzeugnissen? Man könnte doch einfach eine mehr pflanzenbetonte Ernährung empfehlen?

Prof. Achim Spiller: Wir müssen die menschlichen Ernährungsgewohnheiten zunächst einmal so nehmen, wie sie sind. Deshalb empfehlen wir pflanzliche Alternativprodukte, die bei der Zubereitung und im Geschmack tierische Produkte ersetzen können und sich leichter in Ernährungsgewohnheiten einfügen lassen. Das heißt natürlich nicht, dass wir eine Ernährung auf Basis von Gemüse, Hülsenfrüchten und Getreide für weniger wichtig erachten – im Gegenteil. Wir haben es hier im Gutachten nur aus alltagspraktischen Gründen nicht in den Vordergrund gestellt.

Oekolandbau.de: Der Titel für das Gutachten lautet: "Mehr Auswahl am gemeinsamen Tisch". Was genau meinen Sie damit?

Prof. Achim Spiller: Wir stellen fest, dass das Thema Essen einen starken identitätsprägenden und sozial verbindenden Charakter hat. Gleichzeitig kann das Thema leicht polarisierend wirken. Auf der einen Seite die Fleischliebhaber – auf der anderen die Veggies. Das ist sowohl für die Entwicklung des Marktsegmentes von Alternativprodukten wie auch für die gesellschaftlichen Debatten darüber eher hinderlich. Deshalb betonen wir in unserem Gutachten die Möglichkeit eines gemeinsamen Tisches – und das in einem doppelten Sinne. Zum einen können Menschen am gleichen Tisch tierische und pflanzliche Produkte essen. Zum anderen auch als ideeller Tisch, in Form von gemeinsamer Identität, Zugehörigkeit und Akzeptanz. Wenn dieser gemeinsame Tisch nur noch eingeschränkt möglich ist oder sogar nicht mehr existiert, weil unterschiedliche Präferenzen zu Trennungen führen und Menschen ausgeschlossen werden, hat dies tiefgreifende soziale und gesellschaftliche Auswirkungen.

Oekolandbau.de: Was bedeutet das WBAE-Gutachten speziell für die AHV?

Prof. Achim Spiller: Die Außer-Haus-Gastronomie spielt aus Sicht des WBAE eine entscheidende Rolle, weil sie eine große Chance bietet, den Menschen neue Ernährungsstile nahe zu bringen. Dazu sehen wir heute schon viele ermutigende Beispiele. Aber gleichzeitig arbeiten viele Betriebe der klassischen Gastronomie und der Event-Gastronomie immer noch sehr fleischbetont. Hier bestehen viele Chancen, neue Wege einzuschlagen, wachsenden Kundenwünsche nach Alternativprodukten zu befriedigen und gleichzeitig auch Kosten einzusparen.

Oekolandbau.de: Sie empfehlen im Gutachten eine 3-R-Strategie (Reduce, Remix und Replace). Warum ist das gerade auch für die AHV eine interessante Strategie?

Prof. Achim Spiller: Weil sie dazu beiträgt, verschiedene Ernährungspräferenzen zu integrieren. Es geht nicht darum, reine Vegetarier von den Fleisch- und Wurstfans zu separieren. Es geht mehr um eine "sowohl als auch-Strategie". Kleinere Fleischportionen lassen Raum für leckere Gemüse und neue Hybrid-Produkte können pflanzliche und tierische Zutaten kombinieren. Dieser flexible Ansatz führt am Ende zu weniger Konflikten zwischen den Tischgästen und einer höheren Akzeptanz.

Für den Erfolg der 3-R-Strategie sind strukturelle Rahmenbedingungen entscheidend. Ein vielfältiges und alltagstaugliches Angebot muss leicht zugänglich und ausreichend verfügbar sein. Das heißt zum Beispiel: kleinere Portionsgrößen bei tierischen Erzeugnissen anzubieten. Die Gemeinschaftsgastronomie spielt hierbei eine zentrale Rolle.

Was steckt hinter der 3-R-Strategie?

Der Wandel zu einer nachhaltigeren Ernährung erfolgt häufig nicht in radikalen Brüchen, sondern eher schrittweise. Das Gutachten schlägt dafür eine praktikable 3-R-Strategie vor:

  • Reduce – Konsum tierischer Produkte durch kleinere Portionsgrößen verringern
  • Remix – neue Produkte, in denen tierische, pflanzliche und/oder alternative Zutaten kombiniert werden
  • Replace – tierische Produkte in einer Mahlzeit durch Alternativprodukte ersetzen.

Oekolandbau.de: Das Gutachten stellt neben der IST-Situation auch drei Szenarien für die zukünftige Entwicklung bis 2045 vor: Beschreiben diese Szenarien aus Ihrer Sicht wahrscheinliche oder wünschenswerte Entwicklungen?

Prof. Achim Spiller: Die Szenarien beschreiben zunächst einmal mögliche Entwicklungen. Aber Hintergrund ist schon, dass wir eine deutliche Reduktion der tierischen Produkte für sinnvoll und machbar erachten. Doch es gibt im Gutachten keine Festlegung darauf, dass das Szenario des "stark beschleunigten Wandels" unser Wunsch-Szenario ist.

Abgesehen davon: Mit den 20 Kilogramm Fleischverzehr pro Kopf und Jahr liegen wir auch im dritten Szenario noch oberhalb der Empfehlungen der DGE von 0 bis 15 Kilogramm.

Mögliche Szenarien für 2045

 IST-SituationTrend-SzenarioSzenario "beschleunigter Wandel"Szenario "stark beschleunigter Wandel"
Fleischverzehr [kg/Kopf]51403020
Milch und Milchprodukte [in Milch-Äquiv./Kopf]354384295200
Alternativen Fleisch + Wurst [kg/Kopf]12,9915,8
Alternativen Milch-/produkte [kg/Kopf]4,3202477
%-Anteil Alternativen am Rückgang tierischer Lebensmittel 104050
Quelle: WBAE-Gutachten

 

Der WBAE formuliert mit diesen Szenarien keine Prognosen, sondern beschreibt mögliche Entwicklungspfade als Grundlage für die in den späteren Kapiteln durchgeführten Folgenabschätzungen.

Legende zur Tabelle "Szenarien für 2045"

Oekolandbau.de: Lassen sich mit diesen Szenarien am Ende die Treibhausgas-Emissionen wirksam reduzieren?

Prof. Achim Spiller: Da muss man in der Tat genauer hinschauen. Im Trendszenario geht zwar der Fleischkonsum von 51 Kilogramm auf 40 Kilogramm pro Kopf und Jahr zurück. Aber hier greift das "Käseparadoxon": Die Menschen verzichten zwar moderat auf Fleisch, aber ersetzen das durch Käse – mit leider auch hohen Treibhausgas-Emissionen. Deshalb brauchen wir bei den pflanzlichen Alternativprodukten vor allem auch attraktive Käsealternativen. Da ist noch Luft nach oben. Das Szenario "stark beschleunigter Wandel" mit einem deutlich verringerten Fleischkonsum führt jedoch zu einer ebenfalls deutlichen Reduktion der Treibhausgasemissionen.

Treibhausgas-Emissionen bei verschiedenen Szenarien

Treibhausgas-Emissionen (kg CO2-Aquivalent pro kg Produkt)ISTTrendStark beschleunigter Wandel
CO2e Milch [kg/Kopf]496538280
CO2e Fleisch [kg/Kopf]320266131
CO2e Alternativprodukte [kg/Kopf]2940
CO2e gesamt Tier + Alternativprodukte [kg/Kopf]818813451
Reduktion gegenüber IST Milch+Fleisch (%) -1-43
Quelle: WBAE-Gutachten 2025

Oekolandbau.de: Was braucht es, damit die Szenarien Wirklichkeit werden können?

Prof. Achim Spiller: Die Kostenentwicklung der Alternativprodukte spielt sicher eine wichtige Rolle. Derzeit sind solche Produkte noch deutlich teurer als ihre tierischen Pendants. Da benötigt es noch deutliche Innovationsdurchbrüche. Gerade bei cultured meat ist das ein wichtiger Faktor. Hier muss die Produktion heute immer noch nach medizinischen Hygienestandards arbeiten. Unter anderem das macht die Produkte sehr teuer. 

Zudem sind die Stückkosten in der Anfangsphase solcher Entwicklungen generell hoch. Oder anders ausgedrückt: Mit der Verdoppelung der kumulierten Produktionsmengen sinken die realen Stückkosten pro Produkt um rund 20 Prozent – so das Erfahrungskurvengesetz. Für innovative Unternehmen stellt es deshalb eine große Herausforderung dar, diese kritische Anfangsphase durchzuhalten.

Oekolandbau.de: Braucht es da eine staatliche Unterstützung?

Prof. Achim Spiller: Wir empfehlen der Politik: Vermeidet erst einmal Störsignale. Wenn zu diesen Themen politisch ein Kulturkampf betrieben wird, ist das nicht förderlich. Ansonsten sind langfristige Signale hilfreich, die so eine Entwicklung befördern. Dazu gehören beispielsweise eine Förderung von Investitionen in Forschung und Entwicklung für solche Alternativprodukte – keine Produktsubventionierung.

Aber fairer Wettbewerb muss sein. Dazu gehört es beispielsweise, die Ungleichheiten bei der Mehrwertsteuer zu beseitigen. Ein Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent bei Milch und 19 Prozent bei Milchersatzprodukten ist nicht zielführend.

Markt für Alternativprodukte

Im europäischen Vergleich ist Deutschland mit 1,91 Milliarden Euro Umsatz der größte Markt für pflanzenbasierte Alternativprodukte. Insbesondere bei den Milchalternativen gibt es eine langfristig wachsende Nachfrage der privaten Haushalte. 2023 erreichten alle Milchalternativen gemeinsam einen Mengenanteil von 10,2 Prozent am Gesamtmarkt für Milch und Milchgetränke. Zusammen mit den pflanzenbasierten Alternativen für Milchprodukte, wie Joghurt und Käse, ergibt sich bei den Milchalternativprodukten in Deutschland ein durchschnittlicher Pro-Kopf-Absatz von 5,1 Kilogramm. Für Fleisch- und Wurstalternativen zeichnet sich hierzulande ein ähnliches Bild auf geringerem Niveau ab: Im Jahr 2023 betrug der durchschnittliche Pro-Kopf-Absatz für pflanzenbasierte Fleisch- und Wurstalternativen 0,8 Kilogramm – bei einem jährlichen Fleisch- und Wurstwarenverzehr von über 51 Kilogramm pro Kopf. Insgesamt machen tierische Alternativprodukte 1 bis 2 Prozent am Umsatz tierischer Produkte aus (zitiert nach dem WBAE-Gutachten 2025).

Text: Andreas Greiner, Ökonsult


Letzte Aktualisierung 29.07.2025

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