Kuhgebundene Kälberaufzucht in der Milchviehhaltung

Kuhgebundene Kälberaufzucht in der Milchviehhaltung

Dass Kuh und Kalb Zeit miteinander verbringen, wünschen sich nicht nur viele Verbraucherinnen und Verbaucher – auch immer mehr Öko-Landwirtinnen und -Landwirte sehen in der kuhgebundenen Aufzucht ein zukunftsfähiges Haltungssystem. Was ist beim Einstieg zu beachten? Welche Betriebe haben das System schon erfolgreich umgesetzt? Wie kann die Vermarktung funktionieren?

In der Milchviehhaltung ist es üblich, Kälber wenige Stunden oder einige Tage nach der Geburt von ihren Müttern zu trennen. Auch in der ökologischen Landwirtschaft ist dies die Regel. Dies entspricht jedoch nicht den natürlichen Bedürfnissen der Tiere und ist für Kühe und Kälber mit großem Stress verbunden (siehe auch Fibl-Merkblatt "Die natürliche Kuh-Kalb-Beziehung").

Immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher lehnen die frühe Trennung von Kuh und Kalb ab, und die Zahl von (Öko-)Landwirtinnen und -Landwirte, die auf alternative Kälberhaltungssysteme setzen, steigt. Bei der kuhgebundenen Kälberhaltung haben die Kälber entweder den ganzen Tag oder zu bestimmten Tageszeiten Kontakt zu ihren Müttern oder zu Ammenkühen. Die Kälber werden also nicht über ein Tränkesystem mit Milch versorgt, sondern trinken direkt aus dem Euter. Zwischen Kuh und Kalb entwickelt sich eine stabile soziale Beziehung

Was bedeutet "kuhgebundene Kälberaufzucht"?

Der Begriff "kuhgebundene Kälberaufzucht" ist eine Sammelbezeichnung für eine auf Milchviehbetrieben praktizierte Aufzuchtform, bei der Kälber nach der Geburt Kontakt zu adulten Tieren haben und auch von diesen gesäugt werden. Dabei lassen sich grundsätzlich zwei Ausprägungen dieser Haltungsform unterscheiden:

  • Bei der muttergebundenen Kälberaufzucht hat das Kalb Kontakt zu seiner eigenen Mutter und wird von dieser mit Milch versorgt. Weitere Kälber werden von der Kuh nicht versorgt.
  • Bei der ammengebundenen Kälberaufzucht versorgt das adulte Tier mehr als ein Kalb, wobei das eigene Kalb dabei sein kann, aber nicht dabei sein muss.

(Quelle: Thünen-Institut)

Einstieg in die kuhgebundene Kälberhaltung

Kuh und Kalb Tag und Nacht zusammen? Oder nur wenige Stunden am Tag? Aufzucht durch die Mutter oder lieber durch eine Amme? Eine Amme für zwei, drei oder vier Kälber? Die Systeme der kuhgebundenen Kälberaufzucht sind so vielfältig wie die Betriebe, in denen sie praktiziert werden. Sie unterscheiden sich vor allem darin, wie viel Zeit Kuh und Kalb miteinander verbringen und ob die Kälber von der eigenen Mutter oder von Ammenkühen aufgezogen werden.

In der Praxis gibt es meist kein "Standardprogramm", das über die gesamte Aufzuchtperiode verfolgt wird, sondern es werden verschiedene Varianten kombiniert. Beispielsweise können die Kälber in den ersten Monaten 24 Stunden bei der Mutter sein und später wird die gemeinsame Zeit reduziert. Oder eine Kuh zieht ihr eigenes Kalb und zusätzlich Kälber von anderen Kühen auf, ist also gleichzeitig "Mutter" und "Amme".

Welches Verfahren ist für meinen Betrieb geeignet?

Wie die kuhgebundene Kälberaufzucht umgesetzt werden kann, hängt entscheidend von den baulichen Gegebenheiten ab. Das folgende Schaubild zeigt die Möglichkeiten in Abhängigkeit von den vorhandenen Stallgebäuden auf einem Betrieb:

 

Steht ein Stall zur Verfügung, der allen Tieren bis zum Absetzen ausreichend Platz bietet, ist der ganztägige Kontakt zwischen Kuh und Kalb möglich. Um die Kühe melken zu können, ist es jedoch unbedingt erforderlich, dass die Kälber zumindest für die Dauer des Melkens separiert werden können. Wenn die baulichen Gegebenheiten eine zeitweise Abtrennung der Kälber nicht zulassen, bietet sich die Einrichtung eines separaten Kontaktbereiches an, in dem die Mütter bzw. Ammen für eine begrenzte Zeit Kontakt mit den Kälbern haben. Alternativ können die Kälber von einer Amme aufgezogen werden, die 24 Stunden mit den Kälbern verbringt und nicht gemolken wird. 

In dem Artikel "Ein System mit vielen Gesichtern" stellt Kerstin Barth vom Institut für Ökologischen Landbau des Thünen-Instituts die verschiedenen Systeme mit ihren Vor- und Nachteilen vor.

Empfehlung: für die Praxis
Betriebe die in das Verfahren einsteigen möchten, sollten die gewünschte Variante zunächst mit wenigen Tieren ausprobieren, und die Erfahrungen anschließend auf die ganze Herde übertragen. Grundsätzlich muss mit einem höheren Zeitbedarf für Tierbeobachtung gerechnet werden. Es sollten Kälbergesundheitschecks, Euterbonituren und eventuell Gewichtsmessungen durchgeführt werden, damit bei Bedarf reagiert werden kann. Stallbaulich sollte besonders auf mögliche Gefahrenquellen und geeignete Rückzugsbereiche für die Kälber geachtet werden.
Mehr unter www.kuhgebundene-aufzucht.de.

Was ändert sich durch die Umstellung auf kuhgebundene Kälberhaltung?

Die Umstellung des Haltungssystems verändert die Arbeitsabläufe im Betrieb grundlegend. Der Zeitaufwand für die Versorgung der Kälber verringert sich. In einer Befragung von Landwirtinnen und Landwirte im Rahmen der Studie "Mehr als eine Nische? Untersuchungen zum Potenzial der kuhgebundenen Kälberaufzucht in der Vermarktung von Milch und männlichen Kälbern" des Thünen Institutes wurde die Zeitersparnis als "groß" angegeben, da die Arbeiten rund um das Tränken der Kälber mit Eimern oder Tränkeautomaten wegfallen. Viele Landwirtinnen und Landwirte berichten nach Umstellung des Systemes von einer höheren Arbeitszufriedenheit, da weniger körperliche Arbeit anfällt und mehr Zeit für die Beobachtung der Tiere verwendet wird.

Durch die kuhgebundene Kälberhaltung verringert sich die Milchmenge, für die Vermarktung zur Verfügung steht. Wie hoch diese Menge ist, hängt vom Verfahren der kuhgebundenen Kälberhaltung ab. In Untersuchungen des Thünen Institutes auf dem Versuchsgut in Trenthorst betrug die Differenz in der Milchleistung zwischen Kühen, die über mehr als 90 Tage ihr eigenes Kalb versorgt haben, zu Kontrollkühen durchschnittlich circa 15 kg Milch je Kuh und Tag. Die 305-Tage-Leistung wies für die kalbführenden Kühe eine Minderung um circa 1.600 kg aus.

Die Milch kommt natürlich den Kälbern zugute. Doch ist die muttergebundene Kälberhaltung wirtschaftlich? Im Rahmen eines EIP-Projekts wurden eine Differenzkostenanalyse erstellt, um eine Einschätzung zu den anfallenden Kosten und somit dem benötigten Mehrerlös zu treffen. Dabei wurden unter anderem der innerbetriebliche Verbrauch der Milch, die Milchzusammensetzung, die Stall-, Lohn-, Material- und Maschinenkosten sowie die Futterkosten einberechnet. Die Ergebnisse werden im Kapitel "Was kostet das alles" des Handlungsleitfadens (siehe Info-Kasten unten) ausführlich dargestellt.

Leitfaden für die Praxis – Kurzübersicht

Mehr Informationen über die Kosten der Muttergebundenen Kälberhaltung finden Sie auch in dieser Veröffentlichung des Thünen-Institutes: Kalkulatorische Kosten einer muttergebundenen Kälberhaltung in der Milchproduktion (PDF-Datei)

Beispiele aus der Praxis

Auf dem Hofgut Oberfeld bleiben die Kälber bei ihrer Mutter, bis sie viereinhalb bis fünf Monate alt sind.

Dass auch auf großen Betrieben eine kuhgebundene Kälberhaltung möglich ist, zeit das Beispiel von Gut Eichigt. Hier ziehen Ammenkühe ihr eigenes Kalb plus zwei weitere Kälber auf.

IG Kuh und Kalb

In dem Verein  IG kuhgebundene Kälberaufzucht e. V. haben sich Landwirtinnen und Landwirte zusammengeschlossen, die die kuhgebundene Kälberaufzucht in der Milchviehhaltung sowie den vermehrten Verbleib von Milchviehkälbern auf Öko-Betrieben fördern wollen. In Zusammenarbeit mit fünf Öko-Verbänden hat der gemeinnütziger Verein zudem ein Kontrollverfahren für die freiwillige Zusatzzertifizierung etabliert. Das Zertifikat der IG kuhgebundene Kälberaufzucht e. V. setzt damit ein Zeichen für eine artgerechtere Milchviehhaltung.

Milch und Fleisch von Höfen mit kuhgebundener Aufzucht

Da Tierwohl immer mehr in den Fokus der Politik wie auch der Gesellschaft rückt, bietet die Vermarktung von Milch und Fleisch aus kuh- oder muttergebundener Kälberaufzucht viel Vermarktungspotenzial. Es ermöglicht den Betrieben, ihre Produkte im Laden von anderen zu differenzieren und dabei vor allem die Gruppe der tierwohlbewussten Konsumentinnen und Konsumenten zu bedienen.

In der Regel findet die Milch aus dieser Aufzucht jedoch ihren Weg in das Regal über die Molkereien. Dort wird sie allerdings in der Regel nicht getrennt erfasst und kann somit auch nicht als Milch aus kuhgebundener Kälberhaltung ausgezeichnet werden. Die Kundschaft kann also im Supermarktregal nicht erkennen, ob Kuh und Kalb zusammengehalten wurden. Viele Betriebe verkaufen ihre Milchprodukte daher oft über die hofeigenen Läden, wo eine gezielte Vermarktung und Aufklärung möglich ist.

Es gibt inzwischen zahlreiche Initiativen, die sich dem Verkauf ihrer Produkte über die gängigen Vermarktungswege zur Aufgabe gemacht haben. Bekannte Initiativen sind beispielsweise die Demeter HeuMilch Bauern mit "Zeit zu zweit" , die De Öko Melkburen aus Norddeutschland mit dem Label "Elternzeit für unsere Kühe" oder auch Alnatura mit der Initiative Kuh & Kalb. Der Milchhof Lerf aus dem Allgäu vermarktet seine Produkte aus kuhgebundener Kälberaufzucht zum Beispiel über die Lebensmittelkette Feneberg.

Infos zu weiteren Initiativen finden Sie auf der Webseite von ProVieh. Auf einer interaktiven Karte werden alle Höfe aufgelistet, die ihre Kälber zusammen mit den Mutterkühen oder mit Ammen aufziehen. Neben der Karte gibt es zudem eine Übersicht, welche Produkte die Initiativen im Laden vermarkten und welche Online-Shops Produkte aus mutter- oder kuhgebundener Kälberaufzucht anbieten.



Vor allem die Aufklärung der Kundschaft spielt bei der Vermarktung der Produkte eine wichtige Rolle. Dreh- und Angelpunkt sind Hinweisschilder auf den Produkten, um auf die kuh- oder muttergebundene Kälberaufzucht aufmerksam zu machen. Labels schaffen nicht nur Transparenz, Vertrauen und Wiedererkennung, sondern ermöglichen es auch, die Geschichte des Betriebes sowie den Mehrwert der Produkte hervorzuheben.

Das Storytelling am Point of Sale kann entscheidend sein, denn oft sind die Produkte teurer als aus den üblichen Aufzuchtsystemen. Grund dafür sind zum einen die Notwendigkeit von Stallumbau- oder sogar Neubauten, um Kühen und Kälbern ausreichend Platz für ein Zusammenleben in den ersten Lebensmonaten zu ermöglichen. Zum anderen sinkt die Milchleistung der Kühe, da die Kälber bei der Milch Vorrang haben und es durchaus vorkommen kann, dass die Kuh absichtlich Milch für ihr Kalb zurückhält.

Finanzieren beziehungsweise finanziell ausgleichen lässt sich das nur über höhere Preise der Produkte. Manche Betriebe finden weitere Wege, um ihre Kälber bei den Müttern aufziehen zu können. Beispiele dafür sind der Breuner Hof aus Nordrhein-Westfalen oder der Hof Gasswies aus Baden-Württemberg, die sogenannte Kuh-Patenschaften anbieten. Über einen Monats- oder Jahres-Beitrag können die Leute die kuhgebundene Kälberaufzucht auf den Demeter-Betrieben unterstützen. 

Dort, wo Milch produziert wird, fallen auch Kälber an, die nicht für den Erhalt der Herde beziehungsweise für die Nachzucht benötigt werden. Diese werden in der Regel gemästet und geschlachtet. Es ist daher wichtig, bei der kuh- oder muttergebundenen Kälberaufzucht in Milchviehbetrieben auch Vermarktungswege für das Fleisch zu etablieren. Um eine erfolgreiche Wertschöpfungskette aufbauen zu können, braucht es hier nicht nur eine erfolgreiche Vernetzung von Erzeugerinnen und Erzeugern, Verarbeitungsunternehmen sowie dem Handel, sondern auch eine offensive Kommunikation in Richtung Kundschaft.

Ein inzwischen erfolgreiche Initiative für die Vermarktung von Bio-Kalbfleisch ist die "Bruderkalb-Initiative Hohenlohe", die die artgerechte Kälberaufzucht und Mast aller auf den beteiligten Bio-Milchviehbetrieben geborenen Kälber sowie eine anschließende regionale Vermarktung des Fleisches verfolgt.

Ein Beispiel für eine erfolgreiche Regionale Wertschöpfungskette ist das Wertschöpfungsketten-Projekt "WSK Weideschuss". Ziel des Projektes war der Aufbau einer regionalen Bio-Wertschöpfungskette vom Kalb bis zum Rindfleisch mittels muttergebundene Kälberaufzucht, extensiver Rindermast und stressfreier Tötung direkt auf der Weide in der Projektregion Allgäu.

Aus dem Projekt heraus und auf Initiative der drei Gesellschafter entstand anschließend die Idee, die WEIDESCHUSS.Bio-GmbH zu gründen. Die kuhgebundene Kälberaufzucht, die Verarbeitung sowie die regionale Vermarktung werden innerhalb dieser Bio-Wertschöpfungskette dabei gemeinsam von den beteiligten Allgäuer Bio-Betrieben übernommen. 

Unterrichtsmaterial zur kuhgebundenen Kälberaufzucht

Angehende Landwirtinnen und Landwirte lernen in dem Unterrichtsbaustein "Kuhgebundene Kälberaufzucht in der ökologischen Milchviehhaltung – Unterrichtsbaustein für die berufliche Bildung" die unterschiedlichen Systeme und betriebsindividuellen Möglichkeiten kennen. Dieser Unterrichtsbaustein gibt Lehrkräften und Berufsschülerinnen und -schülern einen Ein- und Überblick darüber, welche wesentlichen Punkte bei der stallbaulichen Umsetzung berücksichtigt werden müssen und schließlich, wie die kuhgebundene Kälberaufzucht betriebswirtschaftlich beurteilt werden kann.

Der Unterrichtsbaustein steht unter www.ble-medienservice.de mit der Artikelnummer 0815 kostenfrei zum Herunterladen zur Verfügung. Alle BZL-Unterrichtsbausteine für die berufliche Bildung an landwirtschaftlichen Berufs- und Fachschulen gibt es auch auf www.bildungsserveragrar.de im Menüpunkt "Lehrmaterialien".

Podcast-Tipp:


Forschungsprojekte zu kuhgebundener Kälberhaltung

Kälberaufzucht im Biomilchviehbetrieb – kuhgebunden oder per Eimertränke

Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden bei Jungtieren und Milchkühen durch natürliche Fütterungssysteme.

Projektlaufzeit: 04/2018 - 09/2021

Zu den Forschungsergebnissen

Potenzial der kuhgebundenen Kälberaufzucht in der Vermarktung von Milch und Kälbern

Empfehlungen für die Praxis für die Vermarktung von Produkten aus kuhgebundener Aufzucht

Projektlaufzeit: 01/2018 – 12/2020

Zu den Forschungsergebnissen

Letzte Aktualisierung 16.10.2024

Nach oben
Nach oben